Montag, 4. Mai 2015

Shakespeares Vorlgagen

William Shakespeare lernte den Romeo-und-Julia-Stoff höchstwahrscheinlich durch das Gedicht Arthur Brookes kennen. Ob er auch andere Bearbeitungen gekannt hat, ist nach heutigem Stand der Forschung zweifelhaft, auch wenn es seit dem 19. Jahrhundert immer wieder Versuche gegeben hat, Abhängigkeiten von den frühen italienischen Novellenfassungen nachzuweisen. So geht etwa Karl Simrock in seiner „Sagenvergleichung“ zu Romeo and Juliet davon aus, dass Shakespeare neben Brooke auch Bandello und da Porto benutzt habe, ohne dies freilich vom Text her belegen zu können. Olin H. Moore unternimmt einen solchen Versuch für da Porto, indem er aufzeigt, dass Shakespeare an mindestens fünf wichtigen Stellen von allen anderen bekannten Versionen des Stoffes mit Ausnahme von da Porto abweicht:
  • Romeo besucht den Ball im Hause Capulet, um seine Angebetete Rosaline zu sehen (wie bei da Porto), nicht um sie zu vergessen (wie bei Bandello, Boaistuau und Brooke);
  • Romeo belauscht in der Nacht Juliets Selbstgespräch an ihrem Balkon, ohne zunächst von ihr bemerkt zu werden (so auch da Porto; bei Brooke befindet sich Romeus während Juliets Monolog nicht unter ihrem Balkon, sondern zu Hause im Bett, und als er etwa zwei Wochen später in der Nacht ihr Haus aufsucht, wird er sofort entdeckt);
  • Friar Laurence versucht (anders als bei Brooke, jedoch in Übereinstimmung mit da Porto) nicht, Romeo die Heirat mit Juliet auszureden;
  • Juliet geht allein zur Trauung (wie bei da Porto; bei Bandello, Boaistuau und Brooke wird sie von ihrer Mutter und ihren Dienerinnen begleitet; Boaistuau und Brooke legen die Anzahl der Dienerinnen auf zwei fest und identifizieren eine von ihnen als Juliets Amme);
  • Romeo tötet Tybalt nicht aus Notwehr (wie bei Bandello, Boaistuau und Brooke, wo er von Tybalt wegen seiner Einmischung in den Kampf angegriffen wird), sondern um den Tod Mercutios zu rächen (ähnlich da Porto, bei dem Romeo Thebaldo im Zorn angreift, nachdem viele Mitglieder seiner Familie erschlagen worden sind; Mercutio nimmt in den frühen Fassungen nicht am Kampf teil).
Moores Schlussfolgerung aus diesen Parallelen ist, dass Shakespeare da Portos Novelle offenbar gekannt und benutzt habe. Allerdings hat sich diese Ansicht in der Shakespeare-Forschung kaum durchgesetzt; zu wenig stichhaltig erschienen den meisten Interpreten Moores Indizien, als dass sie eine Abhängigkeit von da Porto überzeugend hätten nachweisen können, lassen sich doch Shakespeares Veränderungen gegenüber Brooke ebensogut auch als eigenständige psychologische Weiterentwicklungen deuten, die nur zufällig mit da Porto übereinstimmen.
Einer der wenigen, die Moores Auffassung zu teilen scheinen, ist Kenneth Muir. Muir sieht in der Tatsache, dass Shakespeares Romeo den Ball besucht, um Rosaline zu sehen, auch eine Parallele zu Boaistuau, doch findet sich dieses Motiv bei Boaistuau gerade nicht, sondern nur bei da Porto. Weiterhin weist Muir auf zwei motivische Ähnlichkeiten zwischen Shakespeares Stück und einer früheren Dramatisierung des Stoffes, der Tragödie La Hadriana (1578) von Luigi Groto, hin: In der Abschiedsszene der Liebenden wird auch bei Groto eine Nachtigall erwähnt, und der Vater des Mädchens wird nach dessen Scheintod mit ähnlichen Worten getröstet wie der alte Capulet (vgl. IV.5.66–70). Allerdings hält Muir selbst diese Übereinstimmungen letztlich für zu gering, um einen Einfluss Grotos auf Shakespeare belegen zu können. Ähnliches gilt für eine weitere Dramenfassung des Stoffes, Lope de Vegas Castelvines y Monteses, die ebenfalls als Vorlage Shakespeares ins Gespräch gebracht wurde; dieses Stück erschien freilich erst 1647 im Druck.
Von allen Romeo-und-Julia-Bearbeitungen, die in der Forschung bislang als mögliche Quellen Shakespeares in Erwägung gezogen worden sind, kann neben Brookes Tragicall Historye nur Painters Boaistuau-Übersetzung Rhomeo and Julietta mit einiger Wahrscheinlichkeit als Vorlage betrachtet werden, obwohl es auch hierfür nur wenige Anhaltspunkte gibt:
  • Shakespeare nennt seinen männlichen Protagonisten nicht Romeus (wie Brooke), sondern Romeo (wie Painter; bei Brooke kommt die Form „Romeo“ nur einmal als Reim auf „Mercutio“ vor [253]);
  • Romeos Versuch, einen Zweikampf mit Tybalt zu vermeiden (III.1.61–64,67–71), ähnelt in Ton und Formulierung eher Painter als Brooke (dort 999–1002, 1011–1015);
  • die Wirkung des Schlaftrunks hält bei Shakespeare 42 Stunden an (IV.1.105); Painter spricht von “40 houres at the least”, während Brooke keine genaue Zeitangabe macht;
  • Shakespeares Romeo bezahlt für das Gift “forty ducats” (V.1.59); bei Painter sind es “Fifty Ducates”, bei Brooke dagegen “fiftie crownes of gold” (2577).
Ansonsten jedoch bleibt Painters Einfluss gering; die Hauptquelle Shakespeares war zweifellos Brooke, dessen Gedicht wesentlich ausführlicher ist als die Novelle Painters und daher zum einen fast alle Handlungselemente Painters mit umfasst und zum anderen durch die vorgenommenen Veränderungen zusätzliche dramatische Möglichkeiten bietet.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen